SATIPATTHᾹNA

DER WEG DER ACHTSAMKEIT

Bedeutung · Ziel · Methode

 

A. BEDRÄNGNIS UND AUSWEG

Stets voller Furcht ist dieses Herz,
Stets voll Besorgnis ist der Geist
Durch Nöte, welche droh'n und solche, welche sind.
Furchtfreies Leben, gibt es solches denn?
 
O künd' es an, von mir befragt!
Wirrsal innen, Wirrsal außen -
In Wirrsal ist verwirrt das Volk.
Dies frag' ich nun, o Gotama:
Wer kann die Wirrsal wohl entwirren?

Wie zeitgemäß klingen diese Verse! Und doch wurden diese besorgten Fragen schon vor über 2500 Jahren im fernen Indien gestellt; und gerichtet wurden sie damals an jenen großen Menschheitslehrer, den Buddha. Und nicht weniger zeitnahe ist auch die Antwort, die der Buddha durch die Gesamtheit seiner Lehre gab, in welcher er den Weg wies hinaus aus Furcht, Besorgnis und Wirrsal. Den Ursprung dieser uralten Bedrängnis, in der der Mensch seit jeher lebt, sah der Buddha im menschlichen Geiste selber. Doch er sah auch, daß in der Grundstruktur eben dieses Geistes der Weg angelegt ist, der aus dieser Bedrängnis herausführt, und er sprach davon in diesem Verse:

Auch in Bedrängnis finden sie die Lehre,
Die zur Erlangung des Nibbāna führt,
Die rechte Achtsamkeit entfalten:
Vollkommen wird ihr Geist geeint.

Die Bedrängnis, von der dieser Vers spricht, wird vom heutigen Menschen besonders stark empfunden. Inmitten der beängstigend anwachsenden Bevölkerung dieser Erde und einer sich zunehmend komplizierenden Gesellschaftsstruktur wird es dem einzelnen immer schwerer, sich ein kleines Maß persönlicher Freiheit zu wahren. Immer schwerer wird es, die durch Familie und Beruf sich aufdrängenden «gesellschaftlichen Pflichten» einzuschränken, um sich ein wenig Freizeit und Entspannung oder gar Alleinsein zu sichern. Innere und äußere Spannungen und Konflikte vermehren noch den Druck. So ergibt sich für den, der sich nicht einfach dieser Situation widerstandslos überläßt, sondern noch einen inneren Widerstand dagegen fühlt, ein wachsendes Gefühl der Bedrängnis, der Einengung und der Sinnlosigkeit dieses Getriebes.

In dem oben zitierten Vers sagt nun der Buddha, daß selbst inmitten solcher Bedrängnis ein Weg ins Offene gefunden und begangen werden kann, und zwar mit Hilfe der Rechten Achtsamkeit; und er fügt hinzu, daß dieser Weg sogar zur endgültigen Leidbefreiung, dem Nibbāna, führt.

Um nun in einer so einfachen und unscheinbaren Grundfunktion des Geistes, wie es die Achtsamkeit ist, solch gewaltige Möglichkeiten zu entdecken und sie zu entfalten, dazu bedurfte es gewiß eines Vollkommen Erwachten (denn dies bedeutet ja das Wort Buddha). Auch im Westen hat es nicht gänzlich an Ahnungen der weitreichenden Bedeutung der Achtsamkeit gefehlt. Hier wollen wir nur jenes, sicher für manche verblüffende Wort Jean Pauls erwähnen: «Genie ist Besonnenheit». Und ein solches Genie war der Buddha, wenn er in eben dieser Besonnenheit, der Bewußtseinsklarheit, d.i. der Rechten Achtsamkeit, den Weg aus der inneren und äußeren Bedrängnis sah und ihn deutlich beschrieb.

Er sprach davon vor allem in seiner Lehrrede von den «Grundlagen der Achtsamkeit» (Satipatthāna-Sutta), deren Übersetzung in diesem Buch enthalten ist (Kapitel X). Dieser Lehrtext beginnt und schließt mit so eindringlichen Worten, wie sie kaum eine andere Lehrrede des Buddha enthält; und das ist bezeichnend für die Bedeutung, die der Buddha diesem Weg der Rechten Achtsamkeit beimaß. Diese einleitenden und abschließenden Worte des Textes geben wir hier zur Verdeutlichung in einer freien, leicht erweiterten Fassung wieder:

«Es gibt einen einzigen (und direkten) Weg, ihr Jünger, der zur Läuterung der Wesen führt (d.i. zur Klärung des Geistes von aller Wirrsal); zur Überwindung der Besorgnis und des Lamentierens darüber; der (in vieler Weise) zum Schwinden (und zunächst zur Verringerung) von Schmerz und Leid, von Mißstimmung und Trübsal führt; zur Gewinnung des rechten Weges (nämlich einer wirksamen Methode); und zur Verwirklichung der Wahnerlöschung, Nibbāna. Und dieser Weg besteht in der Ausbildung der vier Grundlagen der Achtsamkeit.»

Wenn einer, der seit über 2500 Jahren vielen Millionen Menschen als der Erleuchtete (Buddha) und als der unvergleichliche Lehrer gilt, einer seiner Unterweisungen solchen Nachdruck und eine solch hohe Zielsetzung gibt wie in den obigen Worten, so ist diese Unterweisung sicherlich der ernsten Beachtung wert.

Die Absicht dieses Buches ist es daher, Hilfe zu geben für das Verständnis dieses bedeutsamen Lehrtextes und Anweisungen für die Praxis der darin dargelegten Methode der Geistesschulung. Dies geschieht in der Überzeugung, daß die hier gelehrte systematische Ausbildung der Achtsamkeit und Bewußtseinsklarheit eine einfache, gründliche und wirksame Methode darstellt, um dem Menschen in seiner alltäglichen Bedrängnis und Wirrsal zu helfen; und darüber hinaus ihn für das höchste Ziel vorzubereiten: für die endgültige Befreiung des Geistes von den drei großen Leidbringern, Gier, Haß und Verblendung.

Rechte Achtsamkeit ist die unerläßliche Grundlage für rechtes Leben und rechtes Denken und hat daher eine lebenswichtige Botschaft für jedermann: nicht nur für den überzeugten Buddhisten, sondern für alle, die sich bemühen wollen um die Meisterung des eigenen, so schwer zu lenkenden Geistes; und die seine verborgenen und gehemmten Möglichkeiten entwickeln wollen für eine größere innere Kraft und ein größeres und reineres Glück. Es ist ein Weg, der heute ebenso gangbar ist wie vor 2500 Jahren; in den Ländern des Westens ebenso wie in denen des Ostens; für den Menschen im weltlichen Getriebe ebenso wie für den Mönch im Frieden seiner Zelle.

In den oben zitierten ersten Worten der Lehrrede heißt es, daß dieser Weg zur Überwindung von Leid und Besorgnis führt. Ist es nicht eben das, was jedermann erstrebt? Denn um zu erreichen, was immer auch der Mensch für sein Glück hält, muß er ja versuchen, das, was ihn am Glücklichsein hindert, nämlich die alltäglichen Sorgen, Enttäuschungen und Konflikte, zu beseitigen oder doch zu verringern. Leiden in seinen mannigfachen Formen ist eine allgemein menschliche Erfahrung, und ein Weg zur Linderung und schließlichen Aufhebung dieses Leidens ist daher gewiß von höchster allgemein menschlicher Bedeutung.

Das letzte Ziel des Weges rechter Achtsamkeit ist ebenso, wie in der Gesamtlehre des Buddha, die endgültige Leidaufhebung durch die gänzliche Überwindung von Gier, Haß und Wahn. Dieses Ziel mag freilich für den einzelnen noch in recht weiter Ferne liegen, doch der Weg dahin wurde vom Buddha klar und deutlich gewiesen. Es ist dies der Edle achtfache Pfad zur Leidaufhebung, und die Rechte Achtsamkeit ist ein unerläßlicher und nie versagender Helfer auf allen Etappen dieses allmählich ansteigenden Pfades. Um einen stetigen Fortschritt auf ihm zu erzielen, ist freilich meditative Geistesschulung unerläßlich.

Nehmen wir das Wort «Meditation» in einem weiten Sinne, als Bewußtseins-Erhellung und Bewußtseins-Erhöhung, so darf die Satipatthāna-Methode des Buddha, d.i. die Ausbildung Rechter Achtsamkeit, als der für den westlichen Menschen geeignetste Zugang zur Meditation bezeichnet werden.

In dieser meditativen Geistesschulung ist gewiß die methodische Übung mit einigen ausgewählten Achtsamkeitsobjekten ein entscheidender Fortschrittsfaktor, und Anweisung für eine solche Übung wird hier gegeben werden. Doch von nahezu gleicher Wichtigkeit wie methodische Meditation ist hier die Anwendung und Entfaltung der Achtsamkeit im Rahmen des Alltagslebens. Eine dadurch erzielte gleichmäßige Erhöhung des Bewußtseinsniveaus wird der methodischen Meditationsübung helfen; und die Anfangserfolge bei der Alltagsachtsamkeit werden eine Ermutigung sein, mit dem für viele im Westen ungewohnten Weg methodischer Meditation überhaupt erst zu beginnen.

Wie schwer aber ist solches Beginnen, wenn es sich um eine Neuorientierung des Lebens und Denkens handelt! Doch wie notwendig es ist, wird deutlich werden, wenn wir nochmals einen Blick auf den Ausgangspunkt unserer Betrachtungen werfen: auf die Situation des Menschen in seiner Welt, die stets so voller Bedrängnis und Besorgnis ist. Krisen im Leben des einzelnen und im Leben von Menschengruppen und Nationen lösen einander unaufhörlich ab, und die Zwischenperioden des Friedens und der Sicherheit sind zeitlich und auch im räumlichen Bereich nur allzu begrenzt. Ebenso begrenzt ist aber auch die Möglichkeit des einzelnen und von Menschengruppen, diese Krisen zu überstehen, und zwar ohne allzu starke körperliche, wirtschaftliche, geistige und moralische Schäden. Denn es sollte nicht vergessen werden: Die äußeren Möglichkeiten und auch die innere Kraft zum Wiederanfangen oder für eine Umkehr und Selbsterneuerung sind nicht unerschöpflich. Nie wissen wir, ob nicht gerade dieser Augenblick oder diese gegenwärtige Situation zum letzten Mal das Tor der Möglichkeit für uns geöffnet hält. Wir wissen nicht, ob die Kraft, die wir jetzt, wenn auch noch so schwach, in unseren Adern spüren, vielleicht die letzte ist, die uns noch über unsere Not hinwegzutragen vermag. Daher ist eben dieser Augenblick so kostbar. Lasset ihn nicht vorübergehen! mahnt der Buddha.

Die Buddha-Botschaft kommt zum Westen als ein Weg der Hilfe aus dieser Gegenwartsnot, die nichts anderes ist als eine der Erscheinungsformen des stets gegenwärtigen Leidens. Die Buddha-Lehre kündet keine Flucht aus dieser Gegenwart, denn auch in ihrer entschiedensten Verwirklichung ist diese Lehre nicht Weltflucht, sondern Weltüberwindung durch Welterkenntnis und Weltmeisterung. Die Buddha-Lehre ist auch keine Ausflucht in eine wirklichkeitsfremde, abstrakte Spekulation, welche der Auseinandersetzung mit den Gegenwartsproblemen mit billig überlegener Geste ausweicht. Sie ist kein Trank des Vergessens, durch den man aus dem grauen oder gar quälenden Alltag in einen farbenfreudigen exotischen Kult zu entrinnen trachtet. Sie will keine Nahrung geben dem Sehnen, das aus der allzuvertrauten und als drückende Enge empfundenen Nähe nach einer lockenden Ferne verlangt, die man für eine befreiende Weite hält. Nicht bedenkt man aber bei solchem Sehnen, daß jene Ferne für den, der in ihr lebt, eben auch nur Nähe ist und daß sie, wie unsere Nähe hier, beides in sich birgt: Enge und Weite. Welches von beiden sie ist, hängt von uns selber ab, von unserem eigenen Geist.

 

B. DIE LEHRE VOM GEIST

Die Buddha-Lehre handelt nicht von etwas Fernem und Fremdem, sondern vom Nahen und Naheliegenden, ja vom uns Allernächsten: dem menschlichen Geist. Der menschliche Geist ist der Einsatz- und Angelpunkt der Buddha-Lehre und auch ihr Höhepunkt, soweit in Worten lehrbar: nämlich als befreiter, heil gewordener Geist.

Es ist bezeichnend und des Nachdenkens wert, daß die Bibel mit den Worten beginnt: «Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde...», während das «Dhammapada», eines der schönsten und bekanntesten Bücher des buddhistischen Kanons, mit den Worten anhebt: «Vom Geiste gehen die Dinge aus, sind geistgeboren, geistgeführt ...» Diese Worte, die sich dem, der sie hört, unweigerlich tief einprägen, sind die stille und streitlose, doch unerschütterbare Antwort des Buddha auf jenen Bibelglauben.

Geist ist das uns allernächste, weil uns allein durch ihn, d.h. durch das Bewußtsein und seine verschiedenen Funktionen, die sogenannte Außenwelt einschließlich unseres eigenen Körpers gegeben ist. «Ist der Geist erkannt, so sind alle Dinge erkannt.» (Ratnamegha Sūtra, ein Mahāyāna-Text.)

Geist ist der Ursprung alles Guten und Bösen, das sich in uns vollzieht und uns von außen widerfährt. So lehren es schon die beiden ersten Verse des «Dhammapada», deren Beginn wir vorstehend zitierten, sowie auch das folgende Buddha-Wort:

«Was es auch an schlechten Dingen gibt, die dem Schlechten verbunden sind, dem Schlechten angehören, - sie alle gehen vom Geiste aus. Was es auch an guten Dingen gibt, die dem Guten verbunden sind, dem Guten angehören, - sie alle gehen vom Geiste aus.»

Anguttara-Nikāya I.13

Daher ist die Umkehr, die der menschliche Geist in seiner gegenwärtigen Krise zu vollziehen hat, notwendig eine Einkehr in sich selbst. Nur durch innere Wandlung wandelt sich das Außen, auch wenn es noch so langsam nachfolgt. Ist die innere Mitte stark und geordnet, so bleibt es nicht aus, daß das Wirrsal der Peripherie sich allmählich klärt und sich wie von selbst ordnet um die Klarheit der inneren Mitte. Die Ordnung oder Wirrnis der Gemeinschaft folgt aus der Ordnung oder Wirrnis des Geistes. Dies bedeutet nicht etwa die Notwendigkeit, auf jenen Nirnmerleins-Tag zu warten, «wenn einmal alle Menschen gut sind». Vielmehr lehren Erfahrung und Geschichte, daß es häufig nur einer außerordentlich geringen Anzahl von edlen, entschlossenen und einsichtsvollen Menschen bedarf zur Bildung von «Kraftzentren des Guten», um die sich dann diejenigen scharen, welche nicht den Mut haben voranzugehen, doch bereit sind zu folgen. Entsprechendes gilt freilich, wie die jüngste Geschichte zeigte, auch von den Mächten des Übels. Doch es ist eines der tröstlichen Dinge in dieser Welt, daß nicht nur das Schlechte, sondern auch das Gute Ansteckungskraft besitzt, wenn es nur den Glauben an sich selbst hat. Daher, so heißt es in einem Mahāyāna-Text,

«soll man eben den eigenen Geist gründen in den Wurzeln alles Guten; ihn durchtränken mit den befruchtenden Regenschauern der Wahrheits-Lehre; ihn reinigen von den hemmenden Dingen; ihn stark machen durch Tatkraft».

Gandavyūha-Sūtra

Darum besteht die helfende Botschaft des Buddha eben in einer Hilfe für den Geist. Von keinem außer Ihm, dem Erleuchteten, ward diese Hilfe in so vollkommener, gründlicher und wirksamer Weise geboten. Dies wird behauptet trotz größter Hochschätzung für die bedeutenden Erkenntnisse und Heilerfolge der modernen Tiefenpsychologie, die, vor allem in der großen Persönlichkeit C.G. Jungs, eine entschiedene Wendung zum Religiösen und zu östlicher Weisheit vollzogen hat. Die Tiefenpsychologie kann gewiß die Geistlehre des Buddha in theoretischen wie praktischen Einzelheiten ergänzen, sie in die moderne Begriffssprache umsetzen und sie in ihrer Heil-Anwendung auf die besonderen Zeitprobleme beziehen. Doch die entscheidenden Grundprinzipien der buddhistischen Geistlehre, vor allem in ihren praktischen Teilen, bleiben unberührt vom Wechsel der Zeiten und vom Wandel wissenschaftlicher Theorien. Denn die Grundsituationen des menschlichen Daseins kehren immer wieder, wenn auch in neuem Gewand, und die Grundtatsachen des menschlichen geistig-körperlichen Organismus, mit denen jede Geistesführung rechnen muß, bleiben im wesentlichen unverändert. Auf der klaren Erfassung dieser Grundtatsachen und Grundsituationen der menschlichen Existenz basiert die buddhistische Geistlehre, und dies verleiht ihr ihren überzeitlichen und stets zeitgemäßen Charakter.

 

Die Buddha-Botschaft als Lehre vom menschlichen Geist lehrt ein Dreifaches:

 

C. RECHTE ACHTSAMKEIT, DER KERN DER BUDDHISTISCHEN GEISTLEHRE

Der Einsatz-, Angel- und Endpunkt der Heilsbotschaft des Buddha und das Kernstück seiner Geistlehre liegt in jenem einfachen Mahnwort: Sei achtsam! Die Achtsamkeit erfüllt somit die gleichen Funktionen, die wir der Geistlehre des Buddha im allgemeinen zuschrieben. Denn die Achtsamkeit ist

Daher wurde die Entfaltung der Achtsamkeit vom Buddha mit Recht als «der einzige Weg» bezeichnet.

 

1. Was ist diese Achtsamkeit?

Die Achtsamkeit, so hoch gepriesen und so hoher Ergebnisse fähig, ist aber keineswegs ein mystischer Geisteszustand, der nur wenigen Erlesenen verständlich und zugänglich ist. Achtsamkeit in ihrer elementarsten Erscheinungsform ist vielmehr eine der Grundfunktionen des Bewußtseins, ohne welche es keinerlei Objektwahrnehmung gibt. Tritt nämlich irgendein genügend starker äußerer oder innerer Reiz auf, so wird Achtsamkeit geweckt, und zwar zunächst in ihrer einfachsten Form, als das anfängliche Aufmerken, die erste Zuwendung des Geistes zum Objekt. Damit durchbricht das Bewußtsein den trägen, dunklen Strom des Unterbewußten, ein Vorgang, der sich während des Wachbewußtseins in jeder Sekunde unzählige Male vollzieht. Diese anfängliche Funktion der Achtsamkeit als erste Reiz-Reaktion ist noch ein recht primitiver Vorgang, doch er ist von entscheidender Bedeutung als das erste Sich-Abheben des Bewußtseins von seinem unterbewußten Grunde.

Dieses erste Aufmerken wird lediglich ein ganz allgemeines und noch sehr undeutliches Bild des Objektes liefern. Wenn daraufhin weiteres Interesse am Objekt vorhanden oder dessen Einwirkung auf die Sinnesorgane genügend stark ist, wird sich eine schärfere Aufmerksamkeit auf die Einzelheiten des Objektes richten. Sie wird sich nicht nur mit den verschiedenen charakteristischen Merkmalen des Objekts befassen, sondern auch mit seiner Beziehung zum Subjekt des Erkennens. Hierdurch wird eine vergleichende Einordnung der Wahrnehmung in frühere Erfahrungen (Assoziation) ermöglicht (siehe Seite 88). Dies bedeutet eine wichtige Phase in der Geistesentwicklung und zeigt auch, in der Beziehung auf frühere Wahrnehmungen, den engen Zusammenhang von Achtsamkeit und Gedächtnis, die beide im Pāli, der Sprache der buddhistischen Texte, mit dem einen Begriff «sati» bezeichnet werden. Ohne die Gedächtniskraft würde die Achtsamkeit nur isolierte, unzusammenhängende Tatsachen auffassen, wie es zum großen Teil bei den Wahrnehmungen der Tiere der Fall ist. Aus der auf dieser Stufe erfolgenden Ichbeziehung der Wahrnehmung und aus Fehlassoziationen können sich aber schwerwiegende Fehlerquellen der Erkenntnis ergeben.

Aus dem assoziierenden Denken ergibt sich ein weiterer wichtiger Schritt in der Geistesentwicklung, nämlich die Zusammenfassung von Einzelerfahrungen (Generalisierung), d.i. die Fähigkeit abstrakten Denkens. Für die Zwecke unserer Darlegung schließen wir diese Phase in die zweite Stufe der durch die Entwicklung der Achtsamkeit bewirkten Bewußtseinsentwicklung ein. Wir haben somit vier charakteristische Züge dieser zweiten Stufe festgestellt: genauere Objektkenntnis (zunehmende Kenntnis von Einzelheiten), engere Beziehung auf das Subjekt (Subjektivierung der Erfahrung), assoziierendes und abstraktes Denken.

Auf dieser zweiten Ebene einer entwickelteren Achtsamkeit spielt sich der weitaus größte Teil des geistigen Lebens der heutigen Menschheit ab; sie umfaßt ein weites Gebiet: beginnend mit jeder genauen Beobachtung, der aufmerksamen Beschäftigung mit irgend einer Arbeit, bis zur Verfeinerung der Achtsamkeit in den kritischen Untersuchungsmethoden der wissenschaftlichen Forschung. Die Wahrnehmungsbilder, die sich auf dieser Stufe bieten, sind aber meist noch eng verquickt mit allerlei Vorurteilen des Gefühls und Denkens, mit Fehlassoziationen, unzugehörigen Zutaten und vor allem mit der Hauptursache aller Täuschung, der Annahme von etwas Substanzhaftem in den Dingen oder etwas Ichhaftem in den Lebewesen. Durch alle diese Faktoren ist die Verläßlichkeit manchmal sogar der einfachsten Wahrnehmungen und Urteile sehr beeinträchtigt. Auf dieser Entwicklungsstufe der Achtsamkeit bleiben die weitaus meisten derjenigen stehen, die ohne die Buddha-Belehrung geblieben sind oder sie nicht auf ihr alltägliches Leben und Denken anwenden.

Mit der nächsten Entwicklungsstufe betreten wir das eigentliche Gebiet der Rechten Achtsamkeit (sammā-sati) im buddhistischen Sinne. Die Achtsamkeit wird hier als «recht» bezeichnet, weil sie den Geist von verfälschenden Einflüssen frei hält; weil sie Grundlage und Bestandteil rechter Erkenntnis ist; weil sie den Menschen lehrt, das «rechte Ding» in rechter Weise zu tun; und weil sie dem vom Buddha gewiesenen rechten Ziele dient: der Aufhebung des Leidens durch rechte Wirklichkeitserkenntnis und der Überwindung in einem selber von allem Unrechten, das seine Wurzel hat in Gier, Haß und Wahn.

Wenn Wahrnehmungen und Gedanken gleich bei ihrem Entstehen mit rechter Achtsamkeit aufgenommen und geprüft werden, so bieten sie sorgfältig gesichtetes Erfahrungsmaterial und einen mit Vorurteilen unvermischten Gedankenrohstoff, wodurch dann die praktischen und sittlichen Entscheidungen des Menschen, sowie seine Denkurteile einen unvergleichlich höheren Grad von Verläßlichkeit erhalten. Vor allem aber werden solch nüchtern geprüfte und unentstellte Wirklichkeitsbilder eine verläßlichere Grundlage bilden für die buddhistische Haupt-Meditation: die Betrachtung aller Daseinsvorgänge als veränderlich, unbefriedigend und substanzlos.

Einem ungeschulten Geist wird freilich solch intensiver Einsatz Rechter Achtsamkeit durchaus nicht «nahe» oder «vertraut» vorkommen, da er sie nur allzu selten geübt hat. Doch auf dem durch die Satipatthāna-Methode gewiesenen Wege kann sie zu etwas Nahem und Vertrauten werden, da sie ja, wie wir zeigten, in etwas so Nahem und Vertrautem wurzelt. Denn auch diese Rechte Achtsamkeit erfüllt im Grunde die gleichen Funktionen wie auf den beiden früheren Entwicklungsstufen, wenn auch auf einer höheren Ebene. Geistigen Fortschritt hat man mit Recht mit einer spiralenartigen Bewegung verglichen, d.h. die Grundsituationen wiederholen sich auf verschiedenen Ebenen. Die gemeinsamen Grundfunktionen der verschiedenen Achtsamkeits-Grade sind die Auslösung einer zunehmend höheren Bewußtseins-Klarheit und Bewußtseins-Intensität sowie die Gewinnung einer zunehmend von Fehlerquellen gereinigten Wirklichkeitserkenntnis. Wir haben oben diese Entwicklungslinie kurz verfolgt: in ihrem Aufsteigen vom Unbewußten zum Bewußten; vom ersten flüchtigen Bewußtseins-Eindruck zu einer deutlicheren Objektvorstellung; von einer immer noch lückenhaften und durch Wille und Vorurteil getrübten Wahrnehmung zu einem klaren und unverfälschten Wirklichkeitsbild. Wir haben hierbei gesehen, wie es besonders eine erhöhte und geschärfte Achtsamkeit ist, die, natürlich von anderen Faktoren unterstützt, zu der jeweils höheren Entwicklungsstufe führt: zu einer zunehmenden Bewußtseins-Erhellung und Bewußtseins-Erhöhung. Wenn der menschliche Geist aus seiner gegenwärtigen Krise heraus will und seinen weiteren Fortschritt in der Richtung der in ihm angelegten Entwicklung wünscht, so muß er diesen Weg wiederum durch das königliche Tor der Achtsamkeit betreten.

 

D. DER WEG ZU HÖHEREM MENSCHTUM

Die vorerwähnte zweite Entwicklungsstufe, d.i. die genauere, aber noch vielen Vorurteilen unterworfene Objekt-Kenntnis, ist bereits ein gesichertes Besitztum des menschlichen Bewußtseins geworden. Sie ermöglicht wohl noch ein fortgesetztes Wachstum in die Breite und Überfülle vielfältiger Erfahrung und ihrer ichbezogenen Verwertung für materielle Zwecke. Doch durch solche Breitenentwicklung droht der modernen Zivilisation die Gefahr einer Überspezialisierung, deren biologische Konsequenzen bekannt sind: Degenerierung und schließlicher Untergang der Rasse, wie im Fall der prähistorischen Riesenechsen mit ihren gewaltigen Körpern und kleinen Gehirnen. Für den modernen Menschen ist die Gefahr freilich eher die Überentwicklung seines Gehirns und dessen vorwiegender Gebrauch für Zwecke des Genußlebens und des Machttriebs. Die begleitende Gefahr ist, daß die Menschheit eines Tages den Geschöpfen ihres eigenen «Übergehirns» zum Opfer fällt: ihren leibtötenden, mörderischen Erfindungen und ihren geisttötenden «Zerstreuungen». Es mag zur Wiederholung werden jener alten sinntiefen Mythe vom Babylonischen Turm, jenem zusammenstürzenden technischen Wunder, dessen Erbauer einander nicht verstanden und daher nichts Besseres wußten als einander zu bekämpfen.

Das Heilmittel, welches solche zur Katastrophe führende extreme Entwicklungen verhindern kann, ist des Buddha Mittlerer Pfad, der auch deutlich in der hier gelehrten Geistesschulung erscheint. Er ist der ewige Wächter, der, wenn man ihm nur Gehör schenkt, die Menschheit retten kann vor einem Schiffbruch an den Felsen der Extreme.

Wenn die Menschheit fortfährt, sich lediglich auf der Ebene jener zweiten Entwicklungsstufe des Geistes und der Achtsamkeit zu bewegen, so hat sie nur Stagnation oder Katastrophe zu erwarten. Lediglich durch einen neuen Fortschritt in der Klarheit und Intensität des Bewußtseins, d.h. in der Qualität der Achtsamkeit, kann wieder ein Element der Bewegung und Entwicklung in die gegenwärtige geistige Struktur der Menschheit gebracht werden. Dies vermag die hier gelehrte Geistesschulung zu bieten, gestützt auf das sichere Fundament einer ebenso erhabenen wie realistischen Sittenlehre, wie sie gleichfalls in der Buddha-Lehre zu finden ist.

Rechte Achtsamkeit oder «Satipatthāna» wurde vom Buddha ausdrücklich als der Weg zur Befreiung des Geistes und damit zu wahrer menschlicher Größe erklärt. Es ist der Weg zur Entfaltung hohen und höchsten Menschtums, dem wahren Übermenschen, von dem so viele edle Geister geträumt haben und dem so viele fehlgerichtete Anstrengungen galten. Das folgende bemerkenswerte Gespräch ist uns in den alten buddhistischen Schriften überliefert:

Sāriputta, einer der Hauptjünger des Meisters, sprach:

«Man spricht, o Herr, vom <Großen Menschen>. Inwiefern nun, o Herr, ist man ein Großer Mensch?» - «Mit befreitem Geist, sage ich, o Sāriputta, ist man ein Großer Mensch; mit unbefreitem Geist, sage ich, ist man kein Großer Mensch.

Wie nun, o Sāriputta, ist der Geist befreit?

Da weilt, o Sāriputta, der Mönch beim Körper in Betrachtung des Körpers, eifrig, wissensklar und achtsam, nach Überwindung von Begierde und Trübsal hinsichtlich der Welt. Ihm, der beim Körper in Betrachtung des Körpers weilt, wird der Geist ohne Anhaften von den Trieben entsüchtet und befreit. Er weilt bei den Gefühlen in Betrachtung der Gefühle - beim Geist in Betrachtung des Geistes - bei den Geistobjekten in Betrachtung der Geistobjekte, eifrig, wissensklar und achtsam ...

So, o Sāriputta, ist der Geist befreit. Mit befreitem Geist, sage ich, ist man ein Großer Mensch; mit unbefreitem Geist, sage ich ist man kein Großer Mensch.»

Samyutta Nikāya 47,11